Unser Schienenbus
Ich darf mich kurz vorstellen. Mein Name ist VT 95 9396. Das VT steht für Verbrennungstriebwagen. Wobei ich nur Dieselkraftstoff in meinem 6-Zylinder-Unterflurmotor verbrenne. Sie können also bei mir beruhigt einsteigen. Die Ziffer 95.9 steht für meine Baureihe und ich bin als 396. Triebwagen der Baureihe im Jahr 1954 bei MAN gebaut worden. Von keiner anderen Baureihe sind in Deutschland oder gar in der Welt mehr Verbrennungstriebwagen gebaut worden. Nach über 63 Jahren ist jedoch nur noch eine Handvoll erhalten geblieben, von denen nur noch ein weiterer VT 95 in Deutschland betriebsfähig ist. Wir werden auch leicht mit unseren stärkeren Brüdern der Baureihe VT 98 verwechselt. Die werden jedoch von zwei Motoren angetrieben und haben richtige Puffer.
Nach rund 26 Jahren wurde ich im Jahr 1981 von der Deutschen Bundesbahn ausgemustert oder,- wie es in der Fachsprache heißt, ich wurde z-gestellt. Ich war zwar nicht defekt, aber meine Baureihe wurde als zu schwach befunden und wir ließen uns mit unserer vereinfachten Mittelpufferkupplung nur miteinander oder mit unseren Beiwagen kuppeln. Ich landete mit vielen anderen meiner Baureihe auf dem Abstellgleis. Einige verließen das Land, die meisten wurden aber leider verschrottet. Ich hatte aber Glück, denn die Berliner Eisenbahnfreunde entdeckten mich, ließen mich noch einmal bei der Bundesbahn untersuchen und absolvierten zahlreiche Fahrstunden im Braunschweiger Umfeld. Am 8. August 1982 fuhren sie mich dann über die damalige Transitstrecke durch die DDR nach Berlin(West). Private Schienenfahrzeuge befuhren mehr als selten die Transitstrecken nach Berlin. Trotz einer gewissen Geheimhaltung fuhren bewaffnete Grenzorgane mit, um einen Zustieg von weiteren Fahrgästen zu vermeiden. So etwas hatte ich noch nie erlebt, aber so waren damals die Zeiten.
Bereits im September 1982 pendelte ich als zweiter Zug der Eisenbahnfreunde auf der Siemens-Güterbahn zwischen der Insel Eiswerder und dem Kabelwerk in Gartenfeld, die inzwischen leider abgebaut ist, obwohl Güter eigentlich auf die Bahn gehören. Ich war plötzlich sehr beliebt und kein Platz blieb bei den Fahrten frei. Alle 56 Sitzplätze und sogar meine Stehplätze wurden bei den ersten Museumsbahnfahrten in Berlin (West) benötigt. Nach meiner Rückkehr zum Vereinsgelände auf der Reinickendorfer Industriebahn ließ die Deutsche Reichsbahn eine Gleissperre anbringen und schloss sie für die nächsten Jahre nicht mehr auf. Erst im Jubiläumsjahr 1988, 150 Jahre Eisenbahn in Berlin, durfte ich die Industriebahn wieder verlassen und nahm an zwei Fahrzeugausstellungen in Berlin-Zehlendorf teil. Im Jahr 1991 fuhr ich dann erstmals nach Basdorf zum 90. Jubiläum der Heidekrautbahn. Niemand konnte ahnen, dass ich 5 Jahre später dauerhaft nach Basdorf umziehen würde.
Nach dem Vereins-Umzug in das Bahnbetriebswerk Basdorf fand ich einen geschützten Stellplatz in einer Halle. Meine Lackierung glänzt daher immer noch wie am ersten Tag und kein Regen dringt mehr in meine Fugen und Ritzen. Auch mein Beiwagen fand einen Platz in der Halle und wurde über Jahre hinweg komplettiert und restauriert. Seit dem Jahr 2011 ist er wieder betriebsfähig und wir fahren bei Bedarf zusammen. Gemeinsam haben wir 91 Polstersitzplätze und 9 Notsitze im Dienstabteil.
Meine Inneneinrichtung sieht noch immer so aus wie am ersten Tag. Die Rückenlehnen meiner Sitzbänke lassen sich umklappen, so dass die Fahrgäste die Blickrichtung selbst wählen können. Meine Rundumverglasung erlaubt einen besonderen Panoramablick auf die Strecke und das Umfeld. Im Innenraum ist nur das Örtchen von den Blicken der anderen Fahrgäste geschützt. Lediglich die induktive Zugbeeinflussung (PZB 90) und digitaler Zugfunk sind an mir modern und elektronisch.
Ich sorgte mit meinen Probefahrten auf der Strecke Wensickendorf – Schmachtenhagen für die dauerhafte Bestellung des Wochenendverkehrs durch den Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg. Zwei Monate fuhr ich sogar im Auftrag der Deutschen Bahn auf dieser Strecke im Planverkehr. Neben meinen Ausflugsfahrten zu Eisenbahn-Museen in Berlin und Brandenburg (Schöneweide, Lichterfelde, Wittenberge, Lutherstadt Wittenberg und Rheinsberg) und zahlreichen Charterfahrten, kehrte ich ab Dezember 2015 für mehrere Monate wieder in den Plandienst auf der Heidekrautbahn zurück.
Im August September 2023 wurde meine letzte Hauptuntersuchung erfolgreich abgeschlossen, so dass ich die nächsten 6 und bei guter Pflege auch 8 Jahre fahren darf. Die Eisenbahnfreunde mussten viel Geld in meine neuen Federn und Achslager investieren. Meine erste Ausfahrt nach der HU führte mich nach Lutherstadt Wittenberg.
Mein Beiwagen mit der Nummer VB 142 307 wurde ebenfalls 2017 einer Hauptuntersuchung unterzogen und kann jetzt die nächsten Jahre mit mir in und um Berlin die Eisenbahnstrecken erkunden.
Ich würde mich freuen, wenn Sie einmal mit mir mitfahren würden. Sie werden schnell erkennen, warum ich auch der „rote Brummer“ genannt werde und warum mein Triebfahrzeugführer ein Besteck benötigt, um mich fahren zu können.